Festungskrise statt Festungskrieg:
Brisanzgranatenkrise: Entwicklung der Artillerie
seit Mitte des 19. Jahrhunderts
Nichts hat sich in den
letzten 500 Jahren geändert.
Nur die Waffen sind tödlicher geworden.
Graffito
Artillerie und Festungskampf bis Ende des 18. Jahrhunderts
Seit in der Kriegsführung auf Festungen gesetzt wird, um strategische Orte zu schützen, denken potenzielle Angreifer darüber nach, wie sie diese effektiv niederkämpfen können. Anfangs rannten gegnerische Horden gegen die Burg- beziehungsweise Festungsmauern an, hatten Pfeil und Bogen, Speere und lange Leitern und hoffen, so die Wälle überwinden zu können. Die Erfindung des Schießpulvers veränderte die Möglichkeiten der Angreifer, denn schnell gab es auch erste Kanonen, mit denen die Festungen beschossen werden konnten. Im 16. Jahrhundert dann kam man in Europa auf die Idee, die bis dato massiven Geschosse auszuhöhlen und mit Schwarzpulver zu füllen.
Solche Granaten wurden anfangs allerdings mit Handschleudern oder Katapulten verschossen. Später gelang es auch, diese mittels Mörsern (also Steilfeuergeschützen) zum Feind zu tragen. In jedem Fall waren es jedoch Kugeln (ob gefüllt oder massiv). Die Geschütze selbst hatten eine beschränkte Reichweite und die Verwendung dieser Kugeln erbrachte recht ungenaue Wirkung. Obwohl die Technik stetig verfeinert wurde, galten diese Einschränkungen bis in das 19. Jahrhundert hinein. Die Festungsbaumeister der Epoche hatten sich natürlich darauf eingerichtet. Typisch für Vauban-Festungen ist zum Beispiel ein ziemlich weitgefächertes Vorfeld mit Verteidigungsanlagen (für die Infanterie) vor der eigentlichen Festung. So wurde die Distanz zwischen der zu erwartenden Linie der Angreifer und der eigentlichen Kernfestung erhöht.
Fünf Neuerungen, die die Artillerietechnik im 19. Jahrhundert maßgeblich veränderten
Das 19. Jahrhundert wird häufig als das "goldene Jahrhundert" bezeichnet. Es war geprägt von der industriellen Revolution, die Wirtschaft und Gesellschaft massiv umkrempelte. Inspiriert von neuen Möglichkeiten gab es viele Erfindungen mit weitreichenden Folgen - teilweise bis heute. Das war natürlich bei der Militärtechnik bzw. der Artillerie nicht anders. Wenige, kleine Ideen hatten riesigen Einfluss. Sie führten dazu, dass sich Militärstrategien gänzlich änderten. In diesem Fall führten wenige Erfindungen zu einem traurigen Höhepunkt der Geschichte - nämlich den Schrecken des Ersten Weltkriegs: Wenige wissen, dass zwischen 1914 und 1918 mehr Menschen durch Artilleriebeschuss starben oder verletzt wurden als jemals zuvor.
(1) Die Wahrendorff'schen Erfindungen
1840: All dies begann mit einer Erfindung des schwedischen Industriellen Martin von Wahrendorff. Bisher mussten Kanonen immer von vorn geladen werden, was nicht nur sehr umständlich war, sondern im Gefecht auch extrem viel (und daher fehlende) Zeit kostete. Von Wahrendorf entwickelte ein Hinterladersystem - vorerst für Kanonen mit glattem Lauf, was seinerzeit der Stand der Technik war. Die Folge: Die Artilleristen konnten die Geschütze nun deutlich schneller nachladen als zuvor. Die Schussrate erhöhte sich massiv.
1846: Inspiriert von seinem Erfolg tüftelte von Wahrendorf an weiteren Ideen. Wenige Jahre später entwickelte er ein System für gezogene Rohre. Bis dato hatten Geschütze einen glatten Lauf - ich sagte es bereits im Absatz zuvor. Im Gegensatz dazu weisen Geschütze mit einem gezogenen Lauf spiralförmige Rillen auf, die dem Projektilen beim Schuss einen Drall verleihen und sie so stabilisieren. Die Folge: Geschütze mit einem gezogenen Lauf hatten eine höhere Treffergenauigkeit und zugleich eine höhere Reichweite. Hatten diese obendrein das Hinterladersystem, konnten sie gegenüber herkömmlichen Geschützen obendrein mit einer hohen Schussfolge glänzen.

Martin von Wahrendorff
Quelle: Unknown author, Martin von Wahrendorff,
als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
(2) Neue Geschosse für die neuen Geschütze
Auch die Geschosse veränderten sich - sie mussten es letztlich durch den Einsatz von Geschützen mit gezogenem Lauf. Einfache Stahlkugeln konnten damit nicht verschossen werden. Man entwickelte also gegen 1850 sogenannte Langgeschosse, ideal einzusetzen in Kombination mit Hinterladern.
(3) Erfindung der Brisanzgranaten
1880: Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts war die "Revolution der Artillerietechnik" perfekt, als man Langeschosse nicht mehr mit dem recht schwachen Schwarzpulver befüllen musste, sondern Dynamit, Pikrinsäure und später auch TNT zur Verfügung hatte. Man war jetzt in der Lage, Explosivgeschosse zu produzieren (sogenannte Brisanzgranaten). Sie konnten verheerende Wirkung haben und waren als Spreng- oder Splittergranaten verfügbar.
Die Entwicklung neuer Geschütze und Geschosse hatte bereits Einfluss auf den Festungsbau. Doch deren Kombination mit Brisanzgranaten versetzte die Festungsbaumeister regelrecht in Panik. Schnell war klar, dass herkömmliche Festungen einem solchen Beschuss nicht lange standhalten würden. Schlagartig galten bisherige Festungen als veraltet - auch wenn sie erst wenige Jahre zuvor fertiggestellt wurden.

Geschosse im Ersten Weltkrieg
Quelle: Historische Postkarte
(4) Mörser - neuer Geschütztyp
Bis Ende des 18. Jahrhunderts kannte man eigentlich nur zwei Arten von Geschützen: Es gab Kanonen mit einer relativ flachen Schussbahn. Mit ihnen konnte man Ziele direkt anvisieren und bekämpfen. Ihre Geschosse haben eine relativ hohe Durchschlagskraft. Und es gab Mörser. Das ist ein Steilfeuergeschütz mit kurzem Rohr. Vorteil der Mörser ist es, hinter Deckungen liegende und damit vor Flachfeuer (Kanonen) geschützte Ziele treffen zu können. Steilfeuer kann daher oft schwächere und leicht zu treffende Oberseite gedeckter Ziele (wie Forts) treffen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam die Haubitzen hinzu. Das sind Zwitter aus beidem boten der Artillerie bei der Belagerung von Festungen eine größere Vielfalt. Mit einer Haubitze kann man Ziele direkt bekämpfen (wie mit einer Kanone), und man kann sie als Mörser zum Bekämpfen von Bunkern einsetzen.
(5) Billiger Stahl beflügelt die Produktion
In Europa gab es viele Unternehmen, die sich mit der Waffenproduktion befassten und gutes Geld damit verdienten. Das deutsche Vorzeigeunternehmen in dem Segment war das von Friedrich Kupp - gegründet bereits Anfang des 19. Jahrhunderts.
Getrieben von den Möglichkeiten der industriellen Revolution konnte mit der Zeit hochwertiger Stahl viel billiger als bisher produziert werden. Folglich: Es gab inzwischen deutlich verbesserte Geschütztypen, die nun auch schneller und günstiger produziert werden konnten. Klar, dass das die Überlegungen des Militärs - in Europa vor allem die der preußischen Generäle - beflügelt. Friedrich Kupp wurde zum Haus- und Hoflieferant für moderne Waffentechnik. Eine Verkaufsunterlage aus dem Jahr 1896 zeigt die Breite seine Produktpalette. Und alle europäischen Länder zählten schließlich zu seinen Kunden - nicht nur die Preußen. Friedrich Kupp stattete sie alle aus, Freund, Feind.
Natürlich hatte Friedrich Kupp auch Wettbewerber. Insbesondere französische Hersteller hatten sich hier einen guten Namen gemacht. Allem voran ist hier die Frima Compagnie des forges et aciéries de la marine et d'Homécourt | Saint-Chamond zu nennen. Sie entwickelte Panzertürme und vielfältige Geschütze. Im Verlauf der Geschichte werden wir von ihr abermals hören, denn sie produzierte im Ersten Weltkrieg einen der von Frankreich eingesetzten Panzer.
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