Entwicklung der Artillerie im 19. Jahrhundert

Die Entwicklung des Festungsbaus und die der Artillerie sind eng miteinander verwoben. Schaut man auf die vielen Innovationen beim Festungsbau insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts, sind das Reaktionen der Festungsbauingenieure auf moderneres Artilleriematerial oder die Einführung neuartiger, wirkungsstarker Geschosse wie die Brisanzgranate in den 1880er-Jahren.

Ich empfehle in dem Zusammenhang auch den Überblick über die Entwicklung der Festungskriege.

Einleitung

Seit dem Aufkommen des Schwarzpulvers in Europa und dem Einsatz erster Kanonen auf den Schlachtfeldern hat die Artillerie nicht so viele und so einschneidende Veränderungen durchgemacht wir im 19. Jahrhundert - konkret:

Sseit der Einführung des gezogenen Artilleriematerials gegen Mitte dieses Jahrhunderts: Bonze und Gusseisen wurden durch Stahl ersetzt, das Holz im Lafettenbau ebenfalls, die Vorderladung wich der Hinterladung, die Kugeln ist dem immer länger gewordenen Spitzgeschoss gewichen und das alte Schwarzpulver ersetzte man durch andere Explosivstoffe - zuletzt dem rauchschwachen (chemischen) Pulver.

Das sind nur einige der Veränderungen, die dazu führten, dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer eigenen Waffengattung entwickelte.

Bis dahin kannten kämpfende Armeen nur die Infanterie und Kavallerie. Die Artillerie war in die Heere eingegliedert. In Preußen gab es bspw. Bataillons- und Regimentsgeschütze, die der Infanterie zugeordnet waren. Ihre Reichweite lag bei 1.500 Schritt, was rund 1.200 Meter entspricht. Man verschoss eiserne Vollkugeln und versuchte die feindliche Infanterie zu flankieren.

Dann kamen es ab 1860 zu etlichen Neuerungen, die die Schlagkraft der Artillerie um ein Vielfaches steigerten. Trauriger Höhepunkt der Entwicklung kennzeichnet der Erste Weltkrieg, in dem mehr Soldaten durch Artilleriewirkung zu Tode kamen also durch Frontalangriffe auf feindliche Stellungen. In einzelnen Schlachten und an einzelnen Tagen wurden mehr Granaten verschossen wie im gesamten Deutsch-französischen Krieg gut 50 Jahre zuvor.

Ausgangspunkt dieser Veränderungen waren technische Sprünge – ermöglicht durch Erfindergeist und immer besseren Möglichkeiten bei der Produktion.

Geschütze: Entwicklung moderner Hinterlader-Systeme mit gezogenem Lauf:


Mit der Einführung neuer Hinterlader und dem damit verbundenen Einsatz sogenannter Langeschosse möglich. Sie haben eine durch den gezogenen Lauf stabilisierte Flugbahn, weil das Geschoss in Rotation versetzt wird. Sie wird durch die korkenzieherartigen Rillen im Rohr erzeugt – den sogenannten Zügen. Alles zusammen erhöhte die Effektivität neuer Geschütze enorm. Sie hatten eine deutlich höhere Reichweite, eine höhere Treffgenauigkeit und die Geschosse konnten u.a. mit Schwarzpulver gefüllt werden, was deren Zerstörungskraft maßgeblich erhöhte.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Artillerie nur eine die Infanterie unterstützende Funktion – ich sagte das bereits. Man verschoss mit geringer Schussfolge einfache Eisenkugeln aus Vorderladern, die eine geringe Reichweite hatten. Obendrein hatten die Geschütze eine geringe Treffgenauigkeit und die Geschosse richteten bei massiven Bauten eher überschaubare Schäden an.

Unabhängig davon gab es allerdings bereits Büchsen (also Gewehre), die man von hinten lud und über einen gezogenen Lauf verfügten. Man schätzte sie wegen ihrer Reichweite und Treffgenauigkeit. Daher tüftelten Ingenieure daran, diese Vorteile auf das Artillerie-Material zu übertragen. Ein wesentliches Problem dabei war der Verschluss des Hinterladers. Er hatte die Aufgabe, das Geschützrohr abzudichten; er musste sich schnell öffnen und schließen lassen (um die Waffe zügig laden zu können), und er musste zugleich den Kräften widerstehen, die bei der Schussabgabe entstanden, so dass sich der Rückstoß auf das Rohr und die Laffete überträgt.

Aus heutiger Sicht tun sich verschiedene Ingenieure bei der Entwicklung erster moderner Hinterlader-Systeme mit gezogenem Lauf hervor:

  • Da wäre zuerst William G. Armstrong zu nennen. Er war Engländer und entwickelte in den 1850er-Jahren ein Hinterlader- geschütz (Armstrong-Geschütz), welches als bahnbrechend galt. Er verkaufte es in großer Stückzahl an zahlreiche (durchaus miteinander verfeindeten) Armeen und versorgte sogar beide Seiten des Amerikanischen Bürgerkrieges 1861-1865.

  • Martin von Wahrendorff wiederum war ein schwedischer Industrieller, eine Waffengießerei besaß und ebenfalls an dem Problem arbeitete. Er meldete bereits im Jahr 1837 sein Patent für einen neuen Kolbenverschluss an und begann wenige Jahre später mit der (Serien-) Produktion neuer Geschütze – ebenfalls Hinterlader mit gezogenem Lauf und natürlich seinem Wahrendorff-Verschluss.

  • Last but not least wäre da auch die Waffenschmiede von Friedrich Alfred Krupp zu nennen. Sein Unternehmen entwickelte und produzierte in den 1860er-Jahren zahlreiche Geschütztypen mit gezogenem Lauf und einem Krupp’schen Verschluss, der fast 30 Jahre (recht) unverändert zum Einsatz kam (Rundkreilverschluss C/1866 bzw. C/1868).

Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

10,5 cm Kanone L/35
Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

12 cm Schnelllade-Feldhaubitze L/10
Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

15 cm Haubitze

15-cm-Haubitze
Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1892

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Weitere Erfindungen zur Entwicklung der Artillerie


Moderne Laffeten reduzieren den Rückstoß:

Die Preußen erkannten schnell die Chancen der zuvor beschriebenen Neuerungen und strukturierten daraufhin ihre Armee um. Man organisierte bereits in den 1860er-Jahen die Artillerie neu und unterteilte sie in Feld- und Festungsartillerie, weil sich die Anforderungen jeweils grundlegend unterschieden. Man begann auch mit der gezielten Ausbildung von Artillerieoffizieren und gründete 1867 in Berlin die erste Artillerieschule. Die erste „Feuertaufe“ erlebten die Preußen während des Deutsch-französischen Krieges 1870/71. Die Franzosen hatten zwar die besseren Gewehre, aber die Preußen verfügten über die modernere Artillerie. Die besaß eine höhere Reichweite, Feuergeschwindigkeit und Treffsicherheit. Relevante Vorteile mit Folgen.

Obwohl die Artillerie auf den Schlachtfeldern an Bedeutung gewann, gab es noch zwei Probleme – sie betrafen einerseits den Rückstoß nach dem Schuss und andererseits die Mobilität beim Feldeinsatz.

Bis dato waren die Geschützrohre in Längsrichtung starr mit ihrer Laffete verbunden. Durch den Schuss auftretende Rückstoßkräfte veränderten die Position des Geschützes, so dass es immer wieder neu und langwierig ausgerichtet werden musste. Anfangs versuchte man dem Problem mit Rücklaufkeinen zu begegnen. Sie sind auf den später gezeigten historischen Bildern verschiedener Krupp-Kanonen zu sehen.

Es musste also eine Lösung gefunden werden, einerseits die Mobilität eines Geschützes zu erhöhen und andererseits den Rückstoß zu mindern. In Deutschland war es unter anderem der Militäringenieur Maximilian Schumann, der sich mit dem Thema (zusammen mit Hermann Gruson) befasste. Sie entwickelte neue Laffeten, die sie aus Stahl (statt aus Holz) fertigten.

Rauchschwache Treibladungen:

Erfindung der rauchschwachen Treibladung in den 1880er-Jahren. Damit entfiel die starke Qualwolke beim Schuss und es musste nicht mehr bis zum nächsten Schuss gewartet werden, weil die Sicht direkt wieder frei war. Der Vorteil: Die Schussfolge konnte erhöht werden, weil man das Geschütz schneller für den nächsten Schuss wieder ausrichten konnte. Ganz unabhängig davon beschleunigte sich damit auch der Ladevorgang.

Das Schnellfeuergeschütz:

Das Problem des Rückstoßes wurde damit allerdings nicht tatsächlich gelöst. Das gelang erst Ende des 19. Jahrhunderts mit der französischen „Canon de 75 mle 1897“ der Fall. Bei ihr wurde der Rückstoß durch einen Rohrrücklauf aufgefangen. Das stabilisierte das Geschütz und man musste es nicht nach jedem Schuss neu ausrichten. Das neue System hatte auch Vorteile gegenüber bereits erwähnter Geschützlafetten. Damit war auch das erste effektive Schnellfeuergeschütz auf dem Markt. Natürlich wurde die Neuerung schnell auch auf großkalibrige Geschütze übertragen.

Massenproduktion
Friedrich Alfred Krupp (1854-1902) - Quelle: Historische Postkarte

Friedrich Alfred Krupp

In Europa gab es verschiedene namhafte Waffenproduzenten. Das deutsche Vorzeigeunternehmen in dem Segment war das von Friedrich Alfred Kupp - gegründet bereits Anfang des 19. Jahrhunderts.

Getrieben von den Möglichkeiten der industriellen Revolution konnte mit der Zeit hochwertiger Stahl viel billiger als bisher produziert werden. Folglich: Es gab inzwischen deutlich verbesserte Geschütztypen, die nun auch schneller und günstiger produziert werden konnten. Klar, dass das die Überlegungen des Militärs - in Europa vor allem die der preußischen Generäle - beflügelt. Friedrich Kupp wurde zum Haus- und Hoflieferant für moderne Waffentechnik. Eine Verkaufsunterlage aus dem Jahr 1896 zeigt die Breite seine Produktpalette. Und alle europäischen Länder zählten schließlich zu seinen Kunden

Natürlich hatte Kupp auch Wettbewerber. Insbesondere französische Hersteller hatten sich hier einen guten Namen gemacht. Allem voran ist hier die Frima Compagnie des forges et aciéries de la marine et d'Homécourt | Saint-Chamond zu nennen. Sie entwickelte Panzertürme und vielfältige Geschütze. Im Verlauf der Geschichte werden wir von ihr abermals hören, denn sie produzierte im Ersten Weltkrieg einen der von Frankreich eingesetzten Panzer.

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Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

6,5 cm Schnellfeuer-Feldkanone L/28
Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

7,5 cm Schnellfeuer-Gebirgs-Kanone L/11
Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

8,7 cm Schnellfeuer-Kanone L/30
Quelle: Artillerie-Material - Etablissement Fried. Krupp - 1896

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Entwicklung moderner Sprenggranaten


Mit der Einführung der Hinterlader-Systeme mit gezogenem Lauf begann auch eine neue Epoche für das Artilleriegeschoss. Es erhielt die Form eines Hohlzylinders mit einer zur Überwindung des Luftwiderstands und für das Eindringen in feste Ziele günstig geformten Spitze. Diese zylindrisch geformten Geschosse wurden durch die korkenzieherartigen Rillen im Rohr (den Zügen) in Rotation versetzt, was die Flugbahn stabilisierte und zu einer höheren Treffgenauigkeit führte.

Fortan unterschied man zwischen Granaten und Schrapnellen: Das Innere der Granaten füllte man entweder mit Sprengladungen (anfangs aus Schwarzpulver, später aus effektiveren Explosivstoffen – dazu gleich mehr). Bei Schrapnellen versah man das Innere mit einer (kleineren) Sprengladung und zusätzlichen Füllkugeln, die sich bei der Explosion wie viele Gewehrkugeln verbreiten und im Feld erheblichen Schaden in einem weiteren Umkreis anrichten können.

Natürlich entwickelte man auch das Material weiter, aus dem die Geschosse gefertigt wurden. Anfangs verwendete man Gusseisen – später Stahl.

Erster Weltkrieg - Westfront - deutsche Soldaten präsentieren Artilleriegranaten | Quelle: Historische Postkarte

Quelle: Festpostkarte
Blindgänger im Ersten Weltkrieg

In den 1880er-Jahren kamen dann Brisanzgranaten auf: Das sind torpedo-förmige Geschosse, bei denen man das Schwarzpulver im Inneren durch hochexplosive Sprengstoffe wie Melinit oder TNT ersetzte. Diese Geschosse verfügten über ein Vielfaches an Sprengkraft als deren Vorgänge. Bald verfügten alle europäischen Armeen über diese neuen Granaten - sie gehörten zum Standard. Und sie führten Tests durch, um sich mit der enormen Wirkung vertrauter zu machen. 1886 beschoss man in Frankreich beispielsweise das Fort Malmaison mit ihnen. Die Wirkung war verheerend.

Schnell wurde klar, dass Festungen herkömmlicher Bauart veraltet waren und einem solchen Beschuss nicht lange widerstehen konnten. Das galt quasi für alle Festungen der damaligen Zeit – egal, ob sie schon etwas „in die Jahre gekommen waren“ oder gerade erst errichtet wurden.


Weitere Informationen:
Entwicklung der Brisanzgranaten.

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Erster Weltkrieg: Die Artillerie beherrscht die Schlachtfelder

Wie bereits eingangs erwähnt: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dienten Geschütze, deren Schuss eine Reichweite von gerade einmal 1.200 Metern hatte, dem Heer zur Unterstützung, indem man in die Flanken vorrückender Einheiten schoss. Dann durchlebte die Artillerie eine rasante Entwicklung - insbesondere im Verlauf der 20. Hälfte des Jahrhunderts.

Während des Ersten Weltkriegs fanden all diese Entwicklung ihren ersten, bluten und traurigen "Höhepunkt": Die Artillerie wurde zum Schrecken der Schlachtfelder. Durch Artilleriewirkung kamen mehr Soldaten ums Leben oder wurden schrecklich zerstümmelt als bei den Frontalangriffen Mann gegen Mann.

Aus dem Jahr 1914 gibt es eine ausgiebige Dokumentation, die die Wirkung schwerer und schwerster Artillerie zusammenfasst. Es ist die "Denkschrift über die Ergebnisse der Beschießung der Festungen Lüttich, Namur, Antwerpen und Maubeuge, sowie des Fort Manonviller im Jahr 1914". Es befindet sich in russischen Archiven und ist dort einsehbar.


Weitere Informationen:

- Dokumentation: Erster Weltkrieg.
- Dokumentation: Waffen im Ersten Weltkrieg.
- Dokumentation: Schützengräben im Ersten Weltkrieg.
- Dokumentation: Schlachten des Ersten Weltkriegs.



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